Im Sommer 2018 führte mich mein Weg nach Norwegen - doch nicht irgendwohin, sondern ins exotische Svalbard. Hier im Norden, auf 78°Nord, zwischen dem Nordkap und dem Nordpol gelegen, habe ich den einjährigen Kurs zum "Arctic Nature Guide" besucht, habe in einem Zelt überwintert und kann Longyearbyen, den Hauptort Svalbards, nun mein zu Hause nennen.
Am 23.9.2020, Norwegen - Svalbard
Nun leben auch wir hier auf Svalbard ein halbes Jahr lang mit Corona. Im alltäglichen Leben beeinträchtigt uns die Pandemie nur bedingt, schließlich haben wir noch immer keinen einzigen offiziellen Fall hier auf der Insel, aber arbeitsmäßig bekommen wir Corona extrem stark zu spüren. Nachdem im März alle Touristen über Nacht unter Quarantäne gestellt und dann von der Insel verbannt wurden, haben wir ein paar Monate komplett ohne Touristen verbracht, bis dann im Sommer wieder langsam Norweger nach Svalbard reisen durften. Keine Touristen heißt natürlich auch keine Arbeit, und so wurden viele Leute hier im Ort entlassen, auf Kurzarbeit gestellt oder gar nicht erst für die nächste Saison angestellt. Die Guides waren die Ersten, gefolgt vom Service in den Restaurants, den Köchen, bis hin zu auch anderen Sektoren, denn die Öffnungszeiten von eigentlich allen Firmen wurden stark eingeschränkt. Obwohl wir immer noch keinen offiziellen Fall an Corona hatten, merken wir die Pandemie doch auch stark. Zum Glück greift der norwegische Staat hier mehr und dort weniger unter die Arme, und so schaffen es hoffentlich die meisten Menschen und Firmen über diese schwierige Zeit hinweg.
Den Rest des Winters haben wir dann mit Privattouren verbracht und viele neue Gegenden mit Schneemobil und Ski erkundet. Svalbard ist im März und April einfach grandios: Schnee, Sonne, Meereis, Kälte; so soll es sein. Nur ein bisschen mehr Schnee hätten wir uns schon gewünscht... Diesen Winter ist tatsächlich ungewöhnlich wenig Schnee gefallen.
Auf einer der Touren sind wir in den Osten der Insel aufgebrochen, haben über Satellitenbilder und Karten eine Route herausgesucht, die für uns alle unbekannt war. Der Anfang dieser Tour war wunderbar - vor allem, als wir von der "normalen" Route abgebogen sind und unseren eigenen Trail in dem unberührten Schnee hinterließen. Wir fuhren in ein Gebiet im Nordosten Svalbards, dass schon recht verspaltet ist, aber mit den Satellitenbildern hatten wir zuvor eine Route ausgemacht, die wir für möglich hielten, ohne zu großes Risiko einzugehen. Mit einem Trail auf dem GPS, der Karte daneben und guter Sicht wagten wir uns in das neue Gebiet und wurden von Sonnenschein, unglaublichen Bergketten und wunderschönen geologischen Felsformationen belohnt, und konnten auch hier und da in der Distanz Gletscherspalten und ganze Gletschergebiete ausmachen; die alle genau dort lagen, wo wir sie auch erwartet haben. Allerdings sah der Gletscher vor uns etwas unruhiger aus als erwartet; und wir wagten uns noch ein wenig weiter auf einen weiteren Gletscher hinaus, um besser auszumachen, ob die Route vor uns möglich wäre. Ich bin ganz vorne gefahren, mit einer möglichen Route im Sinn, sich langsam vortastend, als nur ein paar Meter entfernt sich ein Loch neben mir zu erkennen gab. Dort hätte nicht so plötzlich ein Loch sein sollen; schließlich lag kein Berg, kein Hang oder ähnliches in der Nähe. Heißt, dass etwas nicht stimmt. Die Kollegen hinter mir hielten auch an und riefen mir zu, dass ich mehrere Spalten beim Fahren geöffnet hatte... Ein seltsames Gefühl, vor allem, weil ich absolut nichts davon mitbekommen hatte. Für mich sind wir über den perfekten, flachen Gletscher gefahren, die Spalten waren durch absolut nichts ersichtlich. Keine Erhebungen oder Vertiefungen im Schnee, keine Linien, keine Risse, einfach eine perfekte, weiße Schneedecke. Die Kollegen allerdings konnten die Spalten sehen, die mein Schneemobil aufgeworfen hat, die wie ein Monster versteckt unter der Schneedecke hungrig auf Beute lauerten, und einige davon waren bodenlos.
Keine Frage, wir mussten umdrehen. Doch mit dem Schneemobil in einem Spaltengebiet umzudrehen klingt vielleicht einfacher, als es ist, denn man weiß ja nicht, wo die nächste Spalte unter dem Schnee liegt. Rechts von mir war das etwa drei Meter breite Loch, von dem ich ebenfalls keinen Boden ausmachen konnte, selbst als ich auf dem Sitz von meinem Schneemobil stand; und links von mir sah etwas unter dem Schnee auch seltsam aus... Also hatte ich mich entschlossen, auf der Stelle umzudrehen. Als ich im Rückwärtsgang zwei Meter nach hinten fuhr, sah ich, wie der Schnee unter dem hinteren Teil der Kette meines Schneemobils einfach ins leere Nichts fiel, und ein tiefes, schwarzes Loch sich auftat. So schnell ich konnte wechselte ich in den Vorwärtsgang, und schoss mit Vollgas meinen eigenen Trail zurück. Es war, als würde man auf einem riesigen Schweizer Käse Schneemobil fahren, mit einer dünnen Schicht Pulver bedeckt, die durch die kleineste Belastung in die bodenlosen Löcher fielen.
Bei mehreren Spalten konnte man gut sehen, dass die Schneedecke sicher nur 20cm betrug, die den Gletscher so sicher hat aussehen lassen. Doch selbst in dieser Situation, mit deutlicher Geschwindigkeit über diesen tückischen Gletscher fahrend, dem eigenen Trail zurückfolgend und die Löcher umfahrend konnte ich nicht anders als zu denken, wie unglaublich stark der Schnee doch ist, dass er ein ganzes Schneemobil mit nur 20cm Schnee in der Luft halten kann.
Erst in ein paar Kilometern Entfernung auf einem anderen Gletscher angekommen wagten wir es uns wieder, stehenzubleiben, und einmal tief Luft zu holen. Die Arktis zeigt einem immer wieder Grenzen auf, und gerade wenn man denkt, dass man den schwierigsten Teil der Route hinter sich hat und sich sicher fühlt, wird man kurz darauf von Mutter Natur anders gelehrt. Das ist vielleicht das Magische an der Arktis: Es gibt noch so vieles zu entdecken, zu verstehen und zu lernen. Hätten wir zum Beispiel neuere Satellitenbilder zur Verfügung gehabt, dann hätten wir die Veränderung im Gletscher bereits zu Hause gesehen und wären niemals auf diesen Gletscher gefahren. Doch so sind wir mit einem Schrecken und unglaublich vielen neuen Erfahrungen zurückgekehrt und konnten von dieser einzigen Tour so viel lernen, wie manchmal zehn Touren zusammen nicht bieten können.
Aus Winter wurde schließlich Sommer, der wenige Schnee verabschiedete sich von Spitzbergen und langsam aber sicher kamen überall die kleinen arktischen Blumen zum Vorschein. Es war ein unglaublich warmer Sommer und viele Abende verbrachten wir in unserer eigens gebauter Feuerstelle vor dem Haus unter der arktischen Mitternachtssonne - darauf wartend, dass Touristen zurückkehren mögen, und wir unsere Welt mit ihnen teilen könnten.
Longyearbyen lag zwischen den steilen Bergen so ruhig da, wie wohl seit Jahrzehnten nicht mehr. Normalerweise landen im Sommer immer wieder Kreuzfahrtschiffe an, manche davon mit 4.000 oder 5.000 Passagieren; was uns Guides zwar immer gute Arbeit verspricht, den Ort aber auch mit Menschen überflutet. An solchen Tagen bleiben die ~2.500 Einwohner meistens in ihren Häusern und überlassen die Straßen den Touristenfluten. Doch dieses Jahr war alles anders. Keines der großen Schiffe kam im Sommer hoch, nur eine Handvoll kleinere Schiffe. Und genau das konnten wir deutlich im Ort spüren: Es lag eine seltsame Ruhe über der ganzen Siedlung, und wir konnten so viele Tiere zwischen den Häusern sehen wir noch nie. Viele Rentiere trotteten über die Straßen, viele Füchse strichen besonders nachts um die Häuser. Während in Venedig wieder Delfine in den Kanälen schwammen, machten sich auch bei uns wieder mehr Tiere im Ort breit.
Doch trotzdem schien der Ort immer mehr und mehr verlassen: Viele Menschen zogen aufs Festland, manche teilweise und Andere für immer, viele Kollegen kamen gar nicht erst zur Sommersaison hierher. Viele Geschäfte verkürzten ihre Öffnungszeiten, hin und wieder waren alle öffentlichen Gebäude aus Vorsichtsmaßnahmen komplett geschlossen. Eine seltsame Zeit, und so ganz anders, als man es sich eigentlich vorgestellt hat. Doch was bleibt uns übrig, als das Beste aus der Zeit zu machen? Kurzfristig die Branche ändern, vorübergehend im IT-Bereich sein Geld verdienen, und gleichzeitig die Natur und den Sommer genießen.
Sehr kurzfristig habe ich dann noch einen Guiding-Job auf dem Festland bekommen: Mit dem Schiff von Hamburg aus die norwegische Küste entlangfahren, bis zum Nordkapp. Zwar durften wir die ersten Wochen kein Land betreten, doch auch von Wasser aus und gerade im Kajak und auf dem SUP kann man auch Norwegen erkunden. Drei Monate sollte ich als Kajakguide an Bord arbeiten, mit Maske, Desinfektionsspray und dem Paddel. Es waren sehr seltsame Touren, vor allem weil in deutschen Hoheitsgebieten Maskenpflicht galt; und im norwegischen Hoheitsgebiet die Maske getragen werden musste, wenn man den Abstand von einem Meter nicht einhalten konnte. Und immer alles desinfizieren, direkt nachdem jemand etwas angefasst hat. Für mich war das alles sehr, sehr seltsam, schließlich kennen wir auf Svalbard noch keine Maskenpflicht.
Die Touren waren beinah etwas surreal, doch natürlich ging auch dieser Plan nicht auf. Auf einem Schwesterschiff brach Corona aus, und so wurden wir auch vorsichtshalber alle unter Quarantäne gestellt und getestet - die Gäste zum Glück alle mit Kabine mit Balkon, doch wir Guides und Crew in unserer Einzelkabine, und meine leider ohne Fenster. 10 Minuten vor Quarantänebeginn wurden wir darüber informiert, und konnten noch gerade so die letzten hektischen Organisationen treffen... Was braucht man denn für eine unbestimmte Zeit in einer kleinen Schiffskabine ohne Fenster? Bücher, eine Sportmatte, Snacks... Und dann begann das Testen und Warten, während wir uns wieder langsam der deutschen Grenze näherten. Filme schauen, Musik hören, Sport machen, Bücher lesen... Drei Mal am Tag klopfte es an der Tür und Essen wurde gebracht. Hin und wieder stellten zwei oder drei von uns das Tablett zur gleichen Zeit vor die Tür, und dann erlaubten wir uns einen kurzen Flurchat - mit fünf und sieben Metern Abstand zwischen uns, jeder immernoch in seiner eigenen Kabine sitzend. Über die Webcam an Deck konnte man schauen, wie es draußen jetzt wohl aussieht: Ob die Sonne scheint, es regnet, oder es schon dunkel ist. Das seltsamste ist wohl, dass keine der Türen abgeschlossen ist, aber man trotzdem nur seine Kabine verlassen durfte, wenn man für die Gäste über Kamera einen Vortrag hielt.
Solch eine Situation lässt einen viel an die Schiffscrew auf der ganzen Welt denken. Manche von ihnen sind seit Monaten auf ihren Schiffen gefangen, und dürfen in keinen Hafen einfahren; an manchen Schiffen wütet Corona, so viele verlorene Seelen auf See. So viele Schiffe, so viele Geschichten.
Nach zwei Tagen war bei uns zum Glück der Spuk vorbei. Alle unsere Testergebnisse waren negativ, wir durften wieder an Deck - mit etwa einer halben Stunde Verspätung, weil der Captain vergessen hatte, auch uns und die Crew über Lautsprecher über die Lockerung zu informieren :)
Doch damit wurden aus geplanten drei Monaten Arbeit nur ein Monat. Sobald wir in den Hafen einliefen, durften wir von Bord, konnten zum Glück ohne weitere Quarantäne nach Hause fliegen, und die nächsten zwei Monate ein wenig von zu Hause arbeiten, wenn es etwas zu tun gab und sonst wieder das Leben zu Hause genießen - zu Fuß oder mit dem Kajak, in den herbstlichen Fjorden Svalbards.